So gehn wir denn hinab
Jesmyn Ward
304 Seiten
Gebundene Ausgabe: 26,00 €
Roman
Verlag Antje Kunstmann
Die körperlichen und seelischen Grausamkeiten, denen Menschen in der Sklaverei des 19. Jahrhunderts ausgesetzt waren, lassen sich nacherzählen. Doch die menschliche Vorstellungskraft reicht kaum aus, um diese Leiden wirklich nachzuempfinden. Im Gegensatz dazu scheint für Annis, die Heldin in Jesmyn Wards neuem Roman So gehn wir denn hinab, ein Leben in Freiheit und Würde unvorstellbar. Stattdessen erscheinen ihr Naturgeister, die ihr helfen, das Unmenschliche zu überleben.
Ein Leben ohne Rechte: Annis und ihre Mutter
Annis wird in die Rechtlosigkeit geboren, auf einer Reisfarm im South Carolina. Ihr „Sire“ ist nicht nur ihr Besitzer, sondern auch der gewaltsame Erzeuger ihres Lebens. Den Mut zum Überleben schöpft das Mädchen aus der Liebe zu ihrer Mutter und aus den Geschichten über ihre Großmutter. Mama Aza war eine afrikanische Kriegerin, die als Sklavin nach South Carolina verschleppt wurde. Durch ihre Mutter erfährt Annis von den Ahnen, von Geistern und den heilenden Kräften der Natur. Diese spirituelle Verbindung wird zur Quelle ihrer inneren Stärke. Sie hilft ihr, die täglichen Qualen zu ertragen.
Als Annis’ Mutter in den Süden verkauft wird, steht das junge Mädchen schutzlos und allein da. Einige Jahre später trifft dasselbe Schicksal auch Annis selbst: Sie wird verkauft, in Fesseln gelegt und von brutalen „Georgia-Männern“ durch die Wildnis getrieben. Über den Sklavenmarkt in New Orleans gelangt sie schließlich auf einer riesigen Zuckerrohrplantage. Hier hält eine weiße „Lady“ das Zepter in der Hand, da der Ehemann in der Stadt weitere Geschäfte führt. Mehr Güte oder gar Gerechtigkeit erfährt Annis aber auch hier nicht – im Gegenteil.
Hoffnung in der Dunkelheit: Begegnung mit Bastian
In der Wildnis Louisianas trifft Annis schließlich auf Bastian, einen entflohenen Sklaven, der sich mit anderen Geflüchteten im Wald versteckt hält. Zum ersten Mal keimt in ihr die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit auf. Doch die Flucht ist ein harter Kampf: gegen die bewaffneten Patrouillen, die Jagdhunde – und vor allem gegen die eigene innere Ohnmacht und das Gefühl der Unwürdigkeit. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung der Geister und Ahnen, die Annis helfen könnten, ihre Seele zu stärken und ihre Menschlichkeit zurückzugewinnen.
Jesmyn Wards lyrische Erzählweise: Brutalität und Trost
Jesmyn Ward beschreibt in So gehn wir denn hinab die physische und psychische Brutalität der Sklaverei mit einer eindringlichen Klarheit. Doch ihre Erzählweise überrascht: Denn sie kombiniert die Härte der Themen mit einer fast lyrischen Sprache, geprägt von lebendigen Metaphern und kraftvollen Symbolen. Besonders in den dunkelsten Momenten findet Annis Trost in der Erinnerung an ihre Ahnen und ihre emotionale Verbindung zu ihnen. Auch wenn sie diese physisch nicht erreichen kann, bleiben ihre Seelen untrennbar verbunden – eine poetische Reflexion über die Widerstandskraft des menschlichen Geistes.
Rainer Tautz