Von guten Eltern
Autor: Richard Russo
Roman
576 Seiten
Hardcover
22,00 €
© DuMont Buchverlag
Richard Russo kehrt ein letztes Mal in den fiktiven Ort North Bath zurück, der inzwischen von der größeren und wohlhabenderen Stadt Schuyler Springs vereinnahmt wurde. Der 75-jährige Autor und Pulitzer-Preisträger schenkt uns dabei ein Wiedersehen mit zahlreichen vertrauten Charakteren aus den ersten beiden North-Bath-Romanen. Doch auch ohne Ortskenntnisse oder Vorkenntnisse lohnt sich der Besuch des in Upstate New York gelegenen Städtchens – wenige Seiten genügen, um sich selbst als North-Bath-Neuling heimisch zu fühlen.
Das Kleinstadtleben in Schuyler Springs (und damit auch in North Bath) spielt sich vor allem im Kleinen ab. Die Tragödien, die sich hier zwischen den engen Ortsgrenzen abspielen, haben kaum etwas mit der großen Weltpolitik oder dem Glanz der Großstadt gemeinsam. Und doch spiegeln sie eine kollektive Gefühlswelt wider, wie sie Richard Russo vor rund fünfzehn Jahren wohl wahrgenommen hat.
Ein Land im Umbruch – und North Bath mittendrin
Der Roman setzt im Jahr 2010 ein, zu einer Zeit, als der kalkulierte, virulente Furor eines Donald Trump die USA noch nicht erfasst hat. Doch unter der Oberfläche brodelt es bereits. In kleinen, benachteiligten Orten wie North Bath, wo der wirtschaftliche Abschwung an jeder Straßenecke spürbar ist, führen persönliche Krisen direkt zu sozialer Kälte, Frustration und dem Gefühl des Abgehängtseins.
Kalt ist es auch an jenem Wintertag, als im verlassenen Hotel Sans Souci die Leiche eines kaum noch identifizierbaren Mannes entdeckt wird. Das Hotel war einst der kulturelle Mittelpunkt der Stadt, mittlerweile ist es ein trostloser Lost Place ohne Aussicht auf Wiederbelebung. Gerüchte über mögliche Investoren haben sich bisher stets als haltlos erwiesen.
Ausgerechnet Doug Raymer, der ehemalige Chef der von Schuyler Springs annektierten Polizeistation, wird mit der Aufklärung des mysteriösen Todesfalls betraut. Da seine ehemalige Kollegin und jetzige Polizeichefin Charice Bond sowohl physisch als auch mental angeschlagen ist, übernimmt der Vorruheständler vorübergehend die Ermittlungen. Dass ihm Charices psychisch labiler Bruder zur Seite gestellt wird, macht die Aufgabe nicht leichter. Fest steht nur: Der Tote hat sich offenbar das Leben genommen. Doch wer er war und warum ihn niemand vermisst, bleibt fast 600 Seiten lang ein Rätsel.
Auch Peter Sullivan, die zweite zentrale Figur des Romans, steht vor einem tiefgreifenden Mysterium. Der College-Dozent, der sich mit seinem verstorbenen Vater Sully erst kurz vor dessen Tod versöhnen konnte, wird unerwartet mit Fragen zu seiner eigenen Vaterrolle konfrontiert. Sein Sohn Thomas, der bei Peters Ex-Frau unter schwierigen Umständen aufwuchs, taucht plötzlich in North Bath auf – angeblich nur für einen kurzen Besuch.
Peters scheinbar heile Welt gerät ins Wanken, zumal sich Thomas’ unstete Laufbahn nahtlos in North Bath fortzusetzen scheint. Schon bald gerät er erneut mit dem Gesetz in Konflikt. Und ausgerechnet Conrad Delgado, das rassistische, rücksichtslose und gewalttätige Großmaul unter den Polizisten der Stadt, hat es auf den verunsicherten und wütenden jungen Mann abgesehen.
Peter, Doug und Charice sind längst nicht die einzigen Figuren, deren Gefühlswelten Richard Russo uns durchstreifen lässt. Auch von Charakteren wie Ruth, Janey, Birdy und Rub erfahren die Leserinnen und Leser so einiges. Obwohl diesen Figuren nur einzelne oder wenige Kapitel gewidmet sind, haben sie dennoch ihre Rolle und Bedeutung – sowohl im Roman als auch in der Gemeinschaft ihrer kleinen Stadt. Sogar der längst verstorbene Sully wirkt noch immer als Ratgeber und innerer Auftraggeber.
„Jeder Mensch ist sein eigenes Universum“, soll Bob Marley einmal gesagt haben. Kaum jemand versteht es so gut wie Richard Russo, diese Universen in Worte zu fassen und uns tief in sie eintauchen zu lassen.
Rainer Tautz