Vor drei Monaten haben wir noch gerätselt, welches Wort wohl zum Jugendwort 2021 gewählt werden würde. Welches also laut Jury in diesem Jahr den Zeitgeist der Menschen unter dreißig am besten trifft. Gewonnen hat die Vokabel CRINGE, die so etwas wie Fremdschämen oder „peinlich berührt sein“ ausdrückt. Die Wahl zieht mindestens zwei Fragen nach sich. Erstens: Warum reicht die viel direktere Bezeichnung Fremdschämen nicht mehr aus? Zweitens: Hat cringe das Rennen deshalb gemacht, weil heute alles und jeder irgendwie zum Fremdschämen ist? Mag sein. Schließlich sorgen Facebook, BILD und Smartphones dafür, dass keine Peinlichkeit mehr unentdeckt und ohne Häme bleibt. Sehr wahrscheinlich nehmen nicht die Missgeschicke zu, sondern die Freuden, sich darauf zu stürzen. Alles kann daher cringe sein – auch die Tatsache, dass sich diese Glosse mit diesem Jugendwort schmückt.
Außerdem ist das Wort cringe sogar selbst ein wenig cringe. Wenn noch nicht heute, dann aber gewiss in wenigen Jahren. Geil, knorke, dufte und astrein waren schließlich auch einmal ziemlich geile Vokabeln. Wie schreibt Kehlmann in Die Vermessung der Welt? „Die Zufälligkeit der Existenz […] verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.“ Sei‘s drum …